An unserem neuen Projekt, das sich mit 24 Skulpturen des renommierten Stahlbildhauers Robert Schad, durch den öffentlichen und naturnahen Raum Schleswig-Holsteins bis an die Grenze Dänemarks erstreckt, begeistert mich die Bewegung als ästhetische Größe, künstlerisches Phänomen und Forschungsgebiet. Bewegung bedeutet für mich Dynamik und Veränderung, oft auch Transformation. Ist ein Körper in Bewegung, so ist er lebendig…

Die nomadische Alternative

Als eine nomadische Alternative zum Museum und Ausstellungshaus ermöglicht eine Ausstellung, die sich wie ein roter Faden durch das Land – oder gar verschiedene Länder – zieht neue Formen der Wahrnehmung von Kunst und -Räumen. Quer zu sozialen, ästhetischen und technologischen Kontexten kann sie Beziehungen zu wechselnden Orten, ihren Bewohnern, unterschiedlichsten Lebensformen und Geschichten herstellen.

Nach Italien, Portugal, Österreich sowie verschiedenen Regionen Deutschlands und Frankreichs ist „BLICKWEIT“ die 17te Station einer Ausstellungsreise, die seit 2011 durch Europa führt und nun Ihre nördlichste Destination erreicht. Bestehend aus naturbelassenem massivem Vierkantstahl des konstanten Querschnitts von 10 x 10 cm zieht sich eine „rote Linie“ durch das Land, die den Betrachter leitet und begleitet. Sie führt in Natur- und Kulturlandschaften, an Museen, Ausstellungs- und Veranstaltungsorte, an Haubarge und Dreiseithöfe, an Häfen, in Gärten, Windparks und natürlich an die See. Ähnlich wie die Natur scheinen Robert Schads in den Raum geschriebene Arbeiten von einer inneren Kraft angetrieben, und obgleich sie tonnenschwer und starr sind, leicht und in Bewegung zu sein. Das Material ist dabei für ihn Ziel, nicht Mittel. Aus der Addition unterschiedlich langer, gerader Teile, die wie Glieder eines organischen Körpers verschweißt werden, entstehen die zum Teil eigens für die Region entwickelten Skulpturen. Sie gehen einen lebendigen Dialog mit ihrem Umfeld ein und vermitteln den Eindruck, als seien sie am Ort gewachsen bzw. mit ihm verwachsen.
Wie eine Kette aus „Perlen“ reiht das Skulpturenprojekt die ausgewählten Orte aneinander. Als Gesamtschau angelegt, können sie jedoch auch individuell als einzelnes Kunst-Raum-Erlebnis wahrgenommen werden. Frei zugänglich bilden die Arbeiten die größte zusammenhängende monografische Ausstellung, die hier bisher im öffentlichen Raum gezeigt wurde.

Kunst verlässt das Museum und ist kostenfrei für alle zugänglich. Sie begegnet auch den Kunstunkundigen auf Augenhöhe und beschreibt oder kommentiert keinen vorbestimmten Sachverhalt. Die Skulpturen stehen im Weg und suchen den Dialog mit den Betrachter*innen, wollen herausfordern und zum Denken anregen an Orten, wo man sie nicht erwartet. Sie sind haptisches und sinnliches Gegenüber in einer vom Virtuellen und Digitalen geprägten Welt.

BLICKWEIT schafft Kommunikation und Verbindung zwischen den Orten und ihren Besucher*innen. So lädt die Ausstellung dazu ein, über den Besuch der Skulpturen die Region aus neuen und ungewohnten Perspektiven für sich selbst zu entdecken und dabei emblematischen Orten zu begegnen, auch jenen, die nicht im Reiseführer zu finden sind.

Die transformatorische Kraft der Skulptur

Wie kann etwas zugleich starr und in Bewegung sein, Tonnen schwer und dennoch leicht und dynamisch in der Wirkung? Warum starten die Skulpturen sofort den Dialog mit ihrem Umfeld, ganz gleich wo? Was ist ein Skulpturales Gedächtnis? Welche Bedeutung hat unsere Körpererinnerung bei der Perzepfon von Robert Schads Arbeiten? Welche Bedeutung hat die Linie im Werk von Robert Schad? Wer ist SMANYU?

BLICKWEIT lädt zur Auseinandersetzung mit den individuellen Eigenschaften der Kunstwerke und davon ausgehenden materiellen und immateriellen Vorstellungsbildern der Betrachter*innen ein.
Robert Schads »Raumbewegungen« sind alles andere als abgeschlossene »fertige« Kunstwerke. Vielmehr ist ihrem Wesen das transformative Moment tief eingeschrieben. Schad zeigt Wachstum und Bewegung und sieht sich darin mit der Ambivalenz von Dynamik und Momentaufnahme konfrontiert. Dabei lässt sich das Transformative nicht nur innerhalb des Entstehungsprozesses der einzelnen Werke, sondern im gesamten Schaffensprozess belegen. Wie eine Momentaufnahme scheint die einzelne Skulptur innerhalb einer rätselhaften, stetig stattfindenden dynamischen Wandlung auf, indem seine Linie – jeweils aus den vorangegangenen Skulpturen heraus – von der einen in die andere Arbeit übergeht. So, als würden sich die Skulpturen ins Unendliche ausdehnen und einander durchdringen.
Die wechselwirksamen Beziehungen und Befindlichkeiten zwischen Skulptur, Betrachter und dem sie temporär umgebenden Raum/»Environment« werden in der Begegnung sicht- und fühlbar. Stichworte wie »skulpturales Gedächtnis«, »Körperwissen«, »virtuelle Choreografie« und »belebte Materialität«, »Kommunikation«, »Wachstum«, »Wanderung« und »Verortung« geben der Ausstellung einen neuen Impuls. Aber auch Fragen nach Sinn und Aufgabe von Kunst im öffentlichen Raum und deren Bedeutung für zeitgenössische Strömungen sind hier interessant.

Herausforderung und Chance

Analog zur Ausstellung in Bremen 2020/21, wird die Ausstellung durch mehrere Besucherzentren, in Museen und Galerien ergänzt. Neben der Kunst im öffentlichen und naturnahen Raum entstehen hier Ausstellungsbereiche, die die Entstehung der Schau dokumentieren, mit weiteren Arbeiten und werkimmanenten Inhalten komplettieren und ggf. im Dialog mit ausgewählten Positionen der Häuser unterschiedliche Perspektiven auf das Werk Robert Schads ermöglicht. In Kooperation mit Kunst- und Kulturschaffenden ergänzt ein Begleitprogramm mit lebendigen Vermittlungsformaten die Ausstellung und eröffnet ein künstlerisches Experimentierfeld.

Interessant ist es BLICKWEIT als europäisches Regionalprojekt vorzustellen und sich mit den unterschiedlichen Kulturinstitutionen und Gemeinden zu vernetzen, um möglichst nachhaltig agieren und Synergien nutzen zu können. Mit seiner europäischen Verlaufsgeschichte kann BLICKWEIT so als kulturelles Highlight und Aushängeschild für die Region fungieren.

An der Schnittstelle der sich durch das Land bewegenden Skulpturen-Linie, den verschiedenen öffentlichen Räumen und Orten, die temporär zu ihrer Bühne werden, sehe ich die Chance, Projektinhalte zu entwickeln, die die jeweiligen Ausrichtungen und Interessengebiete der unterschiedlichen Häuser, Einrichtungen und Kunst- Räume quer zu bestehenden Inhalten und generationsimmanenten Themen einbeziehen, erproben und erforschen und eventuell sogar den virtuellen Raum einer »Cloud« für die sinnlich-haptische Präsenz der Stahlskulpturen Robert Schads entdecken und zwar im Sinne eines »sowohl als auch«, das besonders jungen Menschen bewegliche Zugänge zur Kunst bzw. zur Arbeit Robert Schads eröffnet und jüngeren Künstlergenerationen Reibungsflächen für eigene künstlerische Ausdrucksformen und Resonanzräume bietet. Neues und Bestehendes zu integrieren und »BLICKWEIT« auch in Bezug auf die europäische Dimension von Robert Schads trans- und interdisziplinärem Skulpturen-Projekt mit generationsübergreifender Ausrichtung zu realisieren, darin liegen hier Herausforderung und Chance.

Als die Museen und Galerien 2020 wegen Covid-19 schließen mussten, wurde die Kunst im öffentlichen Raum zum beliebten Ausflugsziel. Covid-19 ist noch immer allgegenwärtig und wird zukünftig auch weiter das kulturelle Leben und damit auch den Kunstbetrieb prägen. Ausstellungsformen, die quer zu den überkommenen Ausstellungspraktiken neue Zugänge zur Kunst ermöglichen gilt es zu entwickeln und genau dort setzt »BLICKWEIT« an, denn bei Robert Schads Skulpturen handelt es sich um Kunst, die dazu auffordert, sie aufzusuchen, und ihren vielfältigen Dialog mit den jeweiligen Orten zu erkunden. Ihre scheinbare Beweglichkeit setzt sich in jeder Umgebung durch. Sie setzt Energie frei, schafft Kommunikation und verbindet Menschen (und Einrichtungen), die in der Kooperation einiges über ihre eigene Stadt / ihren eigenen Standort lernen. So kann sie auch den kunstunkundigen Betrachter ansprechen und von Ihm erlebt werden. Wenn (kleinere) Organisationen auf Augenhöhe zusammenarbeiten und dabei jeweils ihre eigenen Schwerpunkte setzen, entsteht etwas Großes. Kunst ist ein wunderbarer Anlass für Kommunikation. Vertrauen und Improvisationsvermögen sind Säulen von Kultur, die gepflegt werden müssen. (1)

(1) (vgl. Inga Harenborg & Ari Hartog in »Bremen vierkant. Robert Schad«, 2022